Pride Rebellion

Buchrezension – Briefe vom Regenbogen an Ezgi

„Die Ermordung von Hande Kader hat vieles in mir verändert. Große und kleine Lichter blitzen auf und ab. Hande Kader und Ahmet Yildiz, das Opfer des ersten Ehrenmordes in der Türkei an LGBTI+ Menschen. Sie wurden zu meinem Stolz, zu meiner Priorität. Ich schöpfte Mut aus ihnen. Ich wäre stolz auf das, was sie getan haben, ich würde ihre Namen in den Himmel gravieren, selbst wenn man sie auslöschen wollte. Ich habe viel darüber nachgedacht, warum diese Widerstandsleute, die alles für Özgecan Aslan getan haben, so blind für Hande waren. Es kam mir in den Sinn. Es geht immer darum, ob man es sehen will oder nicht. Also wollte ich dafür sorgen, dass jeder sie sieht, und ich wollte mich dafür einsetzen. Ich habe überall darüber gesprochen und jedes Mal, wenn ich darüber sprach, hatte ich eine Träne im Herzen. Gleichzeitig war ich stolz.“        
(Ali, 19, aus Urfa)

Dies ist ein Auszug aus dem Buch „Briefe vom Regenbogen an Ezgi“. In dem Buch sind 28 Erfahrungsberichte von LGBTI+ Personen aus der Türkei und Nordkurdistan in Form von Briefen an die Revolutionärin Aydan Ezgi Şalcı gesammelt. Ezgi widmete ihr Leben der Befreiung aller Geschlechter und wurde als „die Frau mit den Haaren in den Farben der Revolution“ beschrieben.

Sie träumte davon, ein Buch zu veröffentlichen, das die Geschichten von LGBTI+-Personen aus der gesamten Türkei und Nordkurdistan erzählt. Dafür suchte sie nach LGBTI+, die ihr Leben in Form von Briefen erzählten. Am 19. Juli 2015, ein Tag vor dem Attentat von Suruç, schrieb Ezgi einer ihrer Genoss:innen: Loren Elva, die auch mit ihr nach Kobanê ging. Es war mitten in der Nacht, kurz vor 2 Uhr. Ezgi erzählte von ihrem Wunsch, Geschichten von LGBTI+ zu sammeln und in einem Buch zusammenzutragen und fragte Loren, ob sie interessiert sei, ein Teil davon zu werden. Sie willigte ein und erklärte sich bereit, weitere Menschen anzufragen, um zu Ezgis Projekt etwas beizutragen.                                                                                                          
Von den Briefen würde Ezgi nie mehr etwas sehen, denn einen Tag später riss ein IS-Selbstmordattentäter sie und 32 weitere junge Revolutionär:innen in den Tod. Unter den Verletzten war auch Loren Elva. Sie überlebte das Attentat und entschied sich nach dem Verlust und der Unsterblichkeit ihrer Genoss:innen, den Wunsch Ezgis nicht unerfüllt zu lassen, und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen zu suchen, die von ihrem Leben als LGBTI+ erzählen wollen. Nach 6 Jahren harter Arbeit wurde das Buch endlich fertiggestellt und erschien im Mai 2021 das erste Mal in türkischer Sprache. Unter dem Motto „Kein Traum wird unvollendet bleiben“ erfüllte Loren diesen Traum von Aydan Ezgi Şalcı.

Als ich das erste Mal von Ezgis Leben erfuhr, war ich zutiefst beeindruckt und habe sie von da an immer als Vorbild für mich gesehen. Sie hat erkannt, dass sie als Frau und ihre LGBTI+ Geschwister nur gemeinsam befreit werden können, gründete die antikapitalistische LGBTI+ Organisation Kızıl Okyanus (Roter Ozean) und widmete sich diesem Kampf mit voller revolutionärer Hingabe.
Deshalb habe ich das Buch, sobald es im November 2023 auf Deutsch erschienen ist, direkt gelesen.                                                  

Ich lese die Briefe an Ezgi jetzt, wenn ich mich hoffnungslos und unverstanden fühle. Als LGBTI+ Person fühlt man sich leider oft einsam. Das Buch hilft zu verstehen, dass man das nicht ist.
Man fühlt sich erkannt und verstanden.
Man hat vielleicht ähnliche Probleme und der Umgang anderer LGBTI+ Personen mit diesen kann uns beibringen, wie wir selbst mit solchen umgehen können.
Es geht um die Entdeckung seiner Sexualität und des eigenen Geschlechts, sowie die Verwirrung, die für viele damit einhergeht.
Es geht um Liebe und Beziehungen.
Es geht aber auch um „Outings“ und sexualisierte, körperliche, als auch psychische Gewalt.
Bei ähnlichen Situationen werden auch unterschiedliche Herangehensweisen geschildert, wodurch wir ebenfalls lernen und aufgrund der Erfahrungen anderer entscheiden können.
Aber vor allem wird einem klar, dass man nicht verkehrt, krank oder kaputt ist.
Doch auch für Menschen, die nicht LGBTI+ sind ist das Buch aufgrund seiner Vielfalt an Berichten sehr interessant. Vielleicht verstehen unsere Freund:innen, Genoss:innen und alle Mitmenschen dadurch unsere Angst, unsere Trauer, aber vor allem unsere Wut.

Wie schon erwähnt sind „die Briefe vom Regenbogen an Ezgi“ sehr vielfältig.
Das Buch beinhaltet 28 Briefe von Personen aus der Türkei und Kurdistan, wo die Lage für LGBTI+ schlechter ist als in vielen Teilen Europas. Die Gewalt an uns hat jedoch den selben Ursprung und liegt im Heterosexismus. Die Gewalt, die LGBTI+ auf der ganzen Welt erleben müssen, ist entsprechend auch ähnlich und nimmt nur unterschiedliche Ausmaße an. Eine trans Frau namens Bella Demhat schrieb, dass es ihr als LGBTI+ viel besser ginge, seit sie aus der Türkei nach Schweden immigriert ist. Wir müssen jedoch auch erkennen, dass in vermeintlich “fortschrittlichen” Ländern unsere hart erkämpften Rechte Stück für Stück wieder genommen oder zumindest bedroht werden und auch in vermeintlich „fortschrittlichen“ Ländern unsere LGBTI+ Geschwister ausgeschlossen und ermordet werden. Bloß in einem geringerem Ausmaß.
Nur der gemeinsame Kampf wird uns befreien, nicht das individuell erträglichere Leben, wie es einige versuchen wollen.

In dem Buch sind 28 Briefe von 28 fremden Personen und doch finde ich mich in jedem einzelnen wieder, obwohl zum Teil völlig unterschiedliche Lebensrealitäten beschrieben werden. Denn uns alle eint eines: Die Unzufriedenheit mit dem Heterosexismus. Ezgi dient uns dabei als Vorbild für den Kampf gegen den Kapitalismus und das Patriarchat. Sie gibt uns Kraft, wenn wir nicht mehr können, und sie gibt uns Mut, wenn wir Angst haben.

Man sieht leider, dass viele LGTBI+ Personen hoffnungslos sind, wenn sie in die Zukunft blicken. Wir leben täglich in der Angst, angefeindet, angegriffen oder ermordet zu werden, wir werden von unserer Familie nicht akzeptiert und verstoßen.
Heterosexistische Gewalt durch die Familie ist ein sehr präsentes Thema in den Leben vieler LGBTI+.
Viele von uns haben Angst, sich zu outen, weil das bedeuten kann verstoßen zu werden – oder Schlimmeres. Manche Eltern unterstützen einen sehr, aber die Unsicherheit, die Angst, dass es nicht so sein könnte, hält einen zurück. Viele meiner Freund:innen müssen sich vor ihrer Familie verstecken und man erwischt sich immer wieder bei dem erzwungenen Versuch, der bürgerlichen Vorstellung gerecht zu werden.


Auch Dilek (22) aus Mersin erkennt, dass die LGBTI+ Identität bedeuten kann sich von seiner Familie trennen zu müssen, was ihr offenbar sehr schwerfällt, da sie ohne diese alleine sei. Sie sagt aber, ob sie ihr Leben so führen kann, wie sie möchte, hängt davon ab, ob sie sich von ihrer Familie loslöst.    


Mir geht es ähnlich. Ich merke, dass ich von meiner Familie in politischer Arbeit und in meiner Identität eingeschränkt werde, doch wenn man jung und finanziell von der Familie abhängig ist, ist es nicht so einfach damit zu brechen.
Aber ich weiß, dass ich nicht als einziges in dieser Position bin. Ich kenne die Berichte von Revolutionär:innen wie Alexandra Kollontai, die ihren gewalttätigen Partner zurückgelassen hat, um sich der Revolution zu widmen, oder Özgür Namoğlu und Ivana Hoffmann, die sich von ihrer Familie in Deutschland getrennt haben, um die Revolution in Rojava mit ihrem Leben zu verteidigen. Wenn sie es geschafft haben, schaffen Dilek und ich es auch. So schreibt auch Dilek, dass sie „trotz allem immer noch die Hoffnung (hat), dass alles besser werden wird“.

Ähnlich erzählt auch Ali, wie er durch Hande Kader und Ahmet Yıldız den Mut hatte, sich vor seiner Familie zu outen und nicht mehr versteckt zu leben, auch wenn er wusste, dass das für ihn den Tod bedeuten könnte. Der Gedanke an die Gefallenen und der Stolz, den wir aus ihnen ziehen können, hilft uns für ein befreites Leben notwendige Brüche durchzuführen.

Auch wenn das Leben als LGBTI+ hart sein kann, wissen wir, dass wir nicht für uns alleine kämpfen müssen. Wir kämpfen mit unserer Klasse und unseren LGBTI+ Geschwistern für die Gefallenen vor uns und für unsere Zukunft.
In einem Brief schreibt die trans Frau Hayat (34 aus Kütahya): „Vielleicht werde ich getötet, bevor dieser Brief veröffentlicht wird, aber ein Teil meines Lebens wird irgendwo veröffentlicht werden. Darüber bin ich froh: Wenn ich schon sterben muss, dann in meinem eigenen Körper. Ich werde sterben und das ist es, worüber ich mich am meisten freue. Ezgi, deshalb sind wir ja gleich. Wir gehen für unsere Träume und Ideale bis in den Tod. Genau wie du gehst, werde auch ich gehen…“.

Der Tod wird in vielen Briefen thematisiert. Melsa (31) aus Canakkale schreibt: „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich versuche zu leben, ohne zu sterben. Das Sterben ist doch das Einfachste. Mit dem Sterben endet alles auf einmal. Aber ich versuche, die Umstände zu verändern, anstatt zu sterben. Ich werde es versuchen. Wie ich bereits sagte, ist das Leben etwas Schönes (…) Deshalb werde ich mich, solange ich lebe, bemühen, die Dinge zu ändern und für ein besseres Leben zu kämpfen.“

Dieses Zitat bewegt mich bis heute sehr, denn ich und viele meiner Freund:innen, die LGBTI+ sind, hatten oder haben noch mit Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen zu kämpfen. Es ist kein Zufall, dass es gerade uns gehäuft trifft. Das kapitalistische heterosexistische System schafft keinen Platz für uns und hat bisher immer versucht, uns an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Aber der Kampf gegen dieses System gibt mir Kraft. Um es mit James Baldwin zu sagen: „The place in which I‘ll fit will not exist until I make it“. Auch Melsa hat erkannt, dass wir für ein freies Leben kämpfen müssen. Durch den Kampf blickt sie hoffnungsvoll in die Zukunft.
Wir müssen diesen revolutionären Optimismus aufrechterhalten, auch wenn es schwer sein kann und wir uns manchmal hoffnungslos fühlen, denn wir wissen, was wir wollen: Wir wollen in Freiheit und in Frieden leben.

Es ist für mich schön zu sehen, wie viele der LGBTI+ Personen im Buch sich getraut haben, ihre Identität offen auszuleben. Trotz allem, was ihnen im Weg steht, stehen sie zu sich selbst. Sie haben es geschafft ein neues Leben anzufangen und freier zu leben, „denn seit wann ist es ein Verbrechen, eine Blume zu sein, die mitten in der Wüste blüht? Seit wann ist es ein Verbrechen, sich unweigerlich für die Gleichheit zu erheben, zu versuchen, sich zu verwirklichen?” (Aslı, 23, Hakkari)

Die „Briefe vom Regenbogen an Ezgi“ zeigen uns: wir sind nicht allein. Lasst uns unsere Erfahrungen miteinander teilen, lasst uns in aller Öffentlichkeit unsere Identität ausleben, lasst uns nicht aufhören zu kämpfen, bis auch der letzte Mensch befreit ist!

Ezgi, dein Kampf war nicht umsonst.
Ezgi, wir werden deinen Kampf zu Ende bringen, genauso, wie dein Traum, dieses Buch zu schreiben, zu Ende gebracht wurde.
Şehîd namırın!

Wir organisieren eine Lesereise zum Buch “Briefe vom Regenbogen an Ezgi”:

Frankfurt, 22.03. 18.30, LSKH

Bochum, 24.03. 15 Uhr, Fluid Bochum

Leipzig, 05.04 16 Uhr, Soziales Zentrum Clara Zetkin (Georg Schwarz Straße 44)

Berlin, 06.04. Ort und Uhrzeit folgen

Hamburg, 07.04. Ort und Uhrzeit folgen


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