Ezgi Salçi ist eine der 33 Ermordeten des Suruç Massakers vom 20. Juli 2015. Sie sammelte Briefe von LGBTI+ Personen aus der Türkei, um ihre Geschichte zu verbreiten und in einem Buch zu veröffentlichen, doch sie konnte es nie fertigstellen. Sie selbst war nicht LGBTI+, kämpfte aber entschlossen für die Freiheit von LGBTI+ und die Freiheit der gesamten Menschheit. Das Buch, das sie veröffentlichen wollte, wurde treu dem Versprechen „Kein Traum wird unvollendet bleiben“ von ihren Freund:innen und Genoss:innen fertiggestellt. Wir veröffentlichen hier die Übersetzung von einem dieser Briefe an Ezgi.
Hallo Ezgi,
wie schön es ist, wieder mit dir in Kontakt zu kommen. Am Morgen des 20. Juli 2015, fuhren wir gemeinsam von Diyarbakır nach Suruç. Die Idee war, sich mit Kindern zu treffen, die die Grausamkeit des IS überlebt haben. „Bei dem Treffen mit diesen Kindern und LGBTI+, muss man einfach da sein und die Wunden der Kinder behandeln. Ich werde dort sein.“ Auf unserem Weg waren wir nicht allein, sondern wurden stets von dem Traum begleitet, dass wir die Welt verändern würden. Damals war ich noch weniger erschöpft, als ich es heute bin. Ich bleibe stark… Ich habe vor Kurzem erst beschlossen, Hilfe zu suchen, nachdem meine Traumata Jahre später, heute erst ausgelöst wurden. Wir werden heilen. Nicht wahr, Ezgi? Wir werden wieder strahlen wie ein Regenbogen. Wir werden wieder die Regenbogenflagge in den Vordergrund stellen und wieder rufen: „Ihr werdet euch daran gewöhnen!“ Ja, für uns und für jeden muss man sich an unsere Farben gewöhnen.
Auch wenn mich die Begegnung mit dir in diesem Buch an jenen schrecklichen Tag zurückversetzt, den ich nie vergessen werde, will ich mich nicht von meinem Schmerz aufhalten lassen! Ich versuche mich an unsere schönsten Momente zusammen zu erinnern. Zum Beispiel, als alle bei den Volksliedern mitsangen, die wir auf unserer Reise sangen und wie wir uns über Loren totgelacht haben. Ich erinnere mich, dass ich mich über das Frühstück im Kulturzentrum aufgeregt habe, zu dem wir es nicht geschafft haben. Als wir ankamen, habe ich sofort angefangen, Tee, Müsli und Käse zu essen.
Ezgi, hier in der Gegend blieben dunkelhäutige Kinder oft im Stacheldraht hängen. Jetzt sind sie alle bunt. Ezgi, du warst am rotesten. Auf dem Weg nach Suruç saßt du im gleichen Fahrzeug wie ich, zwei Plätze von mir entfernt. Neben dir saß Alican, du weißt schon, der Alican, der sich keinen Parka leisten konnte. Alican machte Fotos und äußerte seine Kritik auf Social Media.
Wir waren mit allen Farben in Suruç. Wir waren wie bunte Kinder, wie Murmeln. Wir reihten uns mit unseren Farben nebeneinander ein. Ich war am weitesten hinten, derjenige, der sich nicht im Zaun verfing. Ich bin beim Weglaufen steckengeblieben, am Stacheldraht an der Mauer. Die Wunde war tief, wie ein Dolch, der in meinen Rücken eingedrungen war. Die Kratzer wurden für Bombenschäden gehalten. Ich wurde angehalten. „Nein“, sagte ich, „mir geht es gut.“ Aber warum lagen meine Freund:innen auf dem Boden? Warum laufen sie nicht wie ich? Warum fliehen sie nicht?
Jetzt klingt ein unvollendeter Spruch in meinen Ohren und ein Nachklingen der Klapperschlange. 33 unserer Genoss:innen verfingen sich im Stacheldraht. Darunter der schönste aller Farbtöne. Ihr Haar rot, eingerieben mit Kornblumenöl, hell und schön. Ezgi… Ezgi war das Rot des Regenbogens.
Der Spruch war unvollständig, die Farben waren verstreut. Wir haben unsere 33 Grundsteine mit dem Versprechen „Wir werden keinen Traum unvollendet lassen“ zusammengetragen. Ihre Träume wurden zu unseren Träumen, ihre halbfertigen Sprüche wurden zum Schwur auf unseren Zungen. Wir wiederholten: „Kein Traum wird unvollendet bleiben.“ Kein Traum blieb auf diesem Platz begraben…
Ezgi, ich habe eine Nachricht von Loren erhalten, die mir von deinem Traum erzählt hat. Ich sagte: „Wir sollten uns sofort an die Arbeit machen.“ Um diesen Traum nicht unvollendet bleiben zu lassen, musste ich mich auf die eine oder andere Weise an ihm beteiligen. Ich habe Loren mit allerlei Unterstützung an ihrer Seite beigestanden. Nachdem Loren sagte: „Wir müssen uns sofort an die Arbeit machen“, machten wir große Fortschritte, aber es gab immer wieder Rückschläge. Da ich Loren in vielen Phasen im Schreibeprozess dieses Buches begleitet habe, hatte ich das Vergnügen, den gesamten Prozess zu begleiten. Ich habe Probleme und Rückschläge miterlebt, wie die Pandemie, die alle in ihren Häusern einschloss. Ich konnte keine persönlichen Gespräche führen, sondern wir mussten alles aus der Ferne erledigen. Wir haben aus der Notwendigkeit heraus nicht aufgegeben. Wir hatten viele Schwierigkeiten. Die Erinnerung daran, dass das Buch dein Wunsch war, hat uns motiviert. Dein Wunsch, das Leben der Menschen immer wieder zu berühren, ihnen in Güte und Liebe zu begegnen, besteht auch heute noch.
Ezgi, wenn wir etwas erreicht haben, dann solltest du wissen, dass wir seit dem Tag, an dem wir in Suruç waren, alles dafür taten. Wir haben mit allen von „Red Ocean LGBTI+“ gesprochen. Ich habe mich von den Diskussionen, die wir mit ihnen geführt haben, beeinflussen lassen noch bevor ich dir sagen konnte, dass der Suchprozess für das Buch begonnen hat. Es dauert bis heute an, meine Suche und meine Probleme mit meiner Familie zu überwinden und zu verarbeiten. Ich wünschte, du könntest bei mir sein…
Ich bin mit Tränen in den Augen am Ende meiner Zeilen angelangt. Wir haben diese Schmerzen nicht verdient. Ich habe in diesem Leben viele meiner Liebsten verloren. Ihr Schmerz geht nicht einmal mehr weg. Eines Tages werden diese Schmerzen in der Zukunft heilen. Ich werde dich nicht vergessen…
Mit unendlichem Respekt und Sehnsucht und vor allem mit Liebe…
Brief von Ömer, 25 Jahre aus Diyarbakır
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